Urteil des Bundessozialgerichts zu Mastektomien
Pressemitteilung der klagenden Person, ihrer Anwält*innen und der TIN-Rechtshilfe zum Urteil des Bundessozialgerichts vom 19.10.2023 über die Kostenerstattung von Mastektomien für nicht-binäre Personen
Kassel, 19. Oktober 2023 – Das Bundessozialgericht in Kassel hat heute über die Ablehnung der Kostenübernahme für eine geschlechtsangleichende Operation bei einer nicht-binären Person durch die gesetzliche Krankenkasse geurteilt und entschieden, dass die Krankenkasse derzeit nicht verpflichtet ist, geschlechtsangleichende Maßnahmen für nicht-binäre Personen zu zahlen (B 1 KR 16/22). Robin Nobicht hatte gemeinsam mit den Rechtsanwält*innen Katrin Niedenthal und Friederike Boll gegen die Techniker Krankenkasse geklagt. Nobicht ist nicht-binär, identifiziert sich also weder als Frau noch Mann. Für die Krankenkasse war dies Anlass, die Kostenübernahme für eine geschlechtsangleichende Mastektomie – die operative Entfernung der Brüste – zu verweigern. Dadurch musste Nobicht die Kosten für die notwendige Operation selbst tragen.
In erster Instanz hatte 2021 das Sozialgericht Mannheim Nobicht in der Sache recht gegeben (S 4 KR 3011/20) und – wie auch andere Sozialgerichte in Deutschland in Fällen nicht-binärer Krankenversicherter – die Krankenkasse zur Kostenübernahme verurteilt.
Dagegen hatte die Krankenkasse Berufung eingelegt und das Landessozialgericht Baden-Württemberg 2022 (L 5 KR 1811/21) in zweiter Instanz dann zu Gunsten der Krankenkasse entschieden.
Das BSG hat zwar die vom LSG Baden-Württemberg genannten Ablehnungsgründe für nicht zutreffend befunden und räumte in der mündlichen Urteilsbegründung ein, dass nicht-binäre Personen denselben Anspruch auf Behandlungen haben können wie auch binäre trans* Personen. Das BSG lehnte den konkreten Anspruch von Nobicht aber deshalb ab, da vom Gemeinsamen Bundesausschuss noch nicht geklärt worden sei, wie Geschlechtsdysphorie zu behandeln ist.
Das BSG bezieht sich dabei anscheinend nicht konkret auf einzelne Operationsmethoden, sondern auf die Diagnose- und Indikationsstellung. Das BSG hat in seiner Urteilsbegründung die „partizipative“ – also gemeinsame – Entscheidungsfindung zwischen Betroffenen und Behandelnden wie z.B. Psychotherapeut*innen als neuen methodischen Ansatz eingestuft.
Dazu die klagende Person Nobicht:
„Die Entscheidung vom BSG finde ich persönlich schrecklich. Ja, es ist positiv, dass das BSG bestätigt, dass die medizinischen Ansprüche von binären und nicht-binären Personen nicht zu unterscheiden sind. Aber das spiegelt lediglich die laufende Entwicklung in vielen anderen Bereichen und auch in der Gesetzgebung wieder.“
„Der Verweis auf den Gemeinsamen Bundesausschuss (GBA) zur Prüfung der Wirksamkeit der Behandlungen, die in den letzten 40 Jahre bei binären trans* Personen von der Gesetzlichen Krankenversicherung bezahlt wurden, löst in mir und sicherlich auch vielen anderen Betroffenen starke Verunsicherung aus. Eine Entscheidung durch den GBA wird gewiss mehrere Jahre auf sich warten lassen. In dieser Zeit wird ganz einfach gesagt mit Menschenleben gespielt, weil in der Zwischenzeit trans* Personen medizinisch erforderliche Behandlungen verwehrt werden. Hier muss unbedingt von dem*der Gesetzgeber*in endlich eine Lösung in Form von einer gesetzlichen Verankerung von trans*-spezifischen Behandlungen her,“ erklärt Nobicht.
Das BSG hat in der mündlichen Urteilsbegründung eingeräumt, dass das Urteil in der Konsequenz bedeuten würde, dass auch die Behandlung binärer Transmänner und -frauen nach aktuellem Stand nicht gezahlt werden müssten. Das Gericht hat jedoch in aller Schärfe zum Ausdruck gebracht, dass es von den Krankenkassen erwarte, begonnene Behandlungen aus Vertrauensschutzgründen weiter zu bezahlen. Welche Leitlinien das BSG für diese Zwischenzeit bis zu einer Entscheidung durch den GBA oder einer gesetzlichen Regelung mitgeben wird, muss im Detail dem schriftlichen Urteil entnommen werden.
Das BSG hat mit der Enscheidung eine Situation geschaffen, in der Krankenversicherungen vorübergehend die Kostenübernahme für neu beantragte medizinisch erforderliche Behandlungen von trans* Personen verweigern könnten. Und das obwohl diese Behandlungen seit vielen Jahren allgemein anerkannte medizinische Praxis sind. Das kann nicht sein. Denn die Behandlungen sind erforderlich, um einen erheblichen psychischen Leidensdruck zu lindern.
„Die Forderung nicht-binärer Personen auf Gleichberechtigung dazu zu nutzen, jetzt auch binären trans* Personen den Zugang zu Gesundheitsversorgung zu erschweren, ist ein enormer Rückschritt in Sachen Menschenrechte“, sagt die Anwältin Friederike Boll.
„Ich empfinde die Urteilsbegründung vom BSG als angstbehaftete Reaktion auf den Ausbau von Selbstbestimmungsrechten von trans* Personen,“ so Nobicht. „Die Richter*innen können offensichtlich mit der zielorientierten Behandlungsweise auf Augenhöhe zwischen trans* Patient*innen und Behandelnden, die in den aktuellen Behandlungsempfehlungen als medizinischer Standard gesetzt sind, nicht umgehen. Das fühlt sich für mich sehr paternalistisch und pathologisierend an, und ist ein deutlicher Rückschritt, was die Rechte von trans* Personen angeht.“
Es bleibt abzuwarten wie die Krankenkassen sich in dieser Situation verhalten werden. Unklar ist bisher, wie und von wem die Prüfung im GBA angestoßen wird und wie lange das dauern wird.
„Für das weitere Vorgehen in diesem konkreten Fall muss die schriftliche Urteilsbegründung des BSG abgewartet werden. Je nachdem muss dann über eine Verfassungsbeschwerde nachgedacht werden.“ so die Fachanwältin für Sozialrecht Katrin Niedenthal.
Die durch das Urteil entstandene Situation ist unhaltbar. Die im GBA vertretenen Spitzenverbände müssen ihrer Verantwortung Rechnung tragen und schnellstmöglich einen Klärungsprozess in die Wege leiten. Im Koalitionsvertrag hat sich die Bundesregierung die Regelung der Kostenübernahme ins Arbeitsprogramm geschrieben – Worten müssen hier mit höchster Beschleunigung Taten folgen.